Rede der Parteivorsitzenden der CDU Dr. Angela Merkel zum Entwurf
eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag
vom 1. März 2002[1]
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit Beifall
begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Recht: Dies ist eine
wichtige Debatte. Dieses Thema bewegt uns alle in unserer globalen Welt gleichermaßen.
Weil es in Deutschland einen Regelungsbedarf gibt, hat sich die Union in den vergangenen
Monaten und Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
(Sebastian Edathy [SPD]: Vor allem konstruktiv!)
Im Übrigen haben wir dies als erste Partei getan.
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die FDP war die erste! - Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Seit wann ist
die CDU/CSU die FDP?)
- Darüber brauchen wir jetzt keinen Streit zu führen; wir haben es getan. - Wir haben
für die Integration der heute bei uns lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger -
dies halte ich für den Frieden in unserer Gesellschaft für zentral - als erste ein
vollständiges Konzept vorgelegt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Bundeskanzler, Sie werden mir zustimmen, dass
wir uns bei der Integration der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger nicht in einer
Balance befinden. Friedrich Merz hat heute morgen
darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeit bei den ausländischen Jugendlichen doppelt
so hoch ist wie die Arbeitslosigkeit bei denen, die deutscher Herkunft sind. Das muss uns
umtreiben und darauf muss dieser Gesetzentwurf zuallererst eine Antwort geben. Diese
Antwort gibt er nach unserer Meinung nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das Ergebnis der 16 Jahre!)
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, zeichnet sich - so weit noch richtigerweise -
dadurch aus, dass er zwei Gruppen von Zuwanderung berücksichtigt, und zwar zum einen die
humanitären Fälle und zum anderen die Fälle des Arbeitsmarktes. Bei den humanitären
Fällen haben wir uns genauso wie Sie weiter zum Art. 16 des Grundgesetzes
verpflichtet und wir verpflichten uns ebenso wie Sie, die Genfer Flüchtlingskonvention
einzuhalten, wie das alle Länder dieser Welt, die vernünftig sind, tun.
(Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler [SPD]: Dann können Sie doch zustimmen!)
- Herr Stiegler, Sie haben in den letzten Wochen wirklich genug herumgeschrien.
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Michael Bürsch [SPD]: So ist das hier im Hohen Hause!)
Es wird aber niemand bestreiten, dass Sie in einer relativ künstlichen Formulierung im
Gesetzentwurf nicht von der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention reden, sondern
"in Anwendung der ..." sagen und dann die Sachverhalte erweitern. Das ist der
Punkt, über den wir streiten.
(Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Rezzo
Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gesetz nicht
gelesen!)
Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute Morgen schon
hätten anwesend sein können,
(Zuruf von der SPD: Wo waren Sie denn?)
dann hätten Sie gehört, dass Friedrich Merz
ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass in Fragen von Einzelfällen humanitärer
Schicksale, die es in unserem Lande in der Tat gibt, mit uns darüber zu reden ist, wie
wir diese Fälle lösen können.
(Rüdiger Veit [SPD]: Dann können Sie doch zustimmen!)
Es geht aber nicht mit generalistischen Klauseln. Das will ich ausdrücklich sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Da gibt es nur eines: die blaue
Stimmkarte!)
Es stellt sich die Frage - das ist das eigentlich Neue und die interessante Situation, der
wir uns alle in den vergangenen Jahren nicht geöffnet hatten -: Gibt es die Notwendigkeit
der Zuwanderung aus eigenen deutschen Interessen und nicht nur aus Gründen der
Humanität, denen wir uns verpflichtet fühlen?
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Antwort lautet Ja!)
Diese Frage haben wir gemeinsam mit Ja beantwortet, wir haben sie aber in sofern
unterschiedlich beantwortet, als es um unsere Interessen geht.
(Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler [SPD]: Bluecard in Bayern! - Sebastian Edathy
[SPD]: Dann können Sie heute nicht Nein sagen! - Christoph Matschie
[SPD]: Wenn das so ist, dann stimmen Sie doch zu!)
Ich sage Ihnen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland seit 1972 eine Entwicklung
haben, dass sich die Zahlen der ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die bei uns
leben, mehr als verdoppelt haben, während die Zahl derer, die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, geringer ist als 1972.
(Ludwig Stiegler [SPD]: 16 Jahre Kohl!)
Das heißt, es hat eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme gegeben und nicht in
den Arbeitsmarkt. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden. Es muss gesteuert werden.
Deshalb sagen wir: Es muss eine richtige Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland geben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Bundeskanzler, es ist doch unstrittig, dass
wir bei Fachpersonal - Ingenieuren oder Technikern - durchaus Bedarf haben
(Joseph Fischer, Bundesminister: Aha!)
und dass wir mehr Studenten brauchen. Auf diesem Feld haben Sie mit Ihrer Greencard einen
relativ lockeren Vorschlag gemacht, bei dem eine Sache sehr interessant war. Es hat sich
nämlich gezeigt, dass von 20.000 möglichen Informatikern gerade mal 5.000 gekommen sind,
weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland so sind, dass kein Interesse besteht, hier zu
arbeiten. Das ist das Problem, das uns umtreiben muss.
(Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler [SPD]: 10 000 haben wir schon begrüßt! -
Sebastian Edathy [SPD]: Am Thema vorbei! Sie reden an der Sache vorbei! Weitere Zurufe von
der SPD)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der
Schlussphase dieser Debatte bitte ich um ein bisschen Disziplin. - Frau Kollegin Merkel,
Sie haben das Wort.
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Zahlen müssen stimmen!)
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist doch, dass
die 20.000 Plätze für Informatiker gar nicht ausgeschöpft sind
(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Noch nicht vollständig, aber die Zahl wächst!)
und inzwischen wegen der Konjunkturlage mehr Informatiker entlassen worden sind, als
überhaupt zu uns gekommen sind.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir müssen deswegen doch gar nicht schreien, sondern wir sollten lieber versuchen, die
Bedingungen an unseren Hochschulen und die Bedingungen für die Forschung zu verbessern.
Das können wir an anderer Stelle machen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, was Sie jetzt bei der Arbeitsmarktzuwanderung machen, das ist eine
unspezifische Regelung, die nach unserer Meinung eben gerade nicht sicherstellt, dass die
Steuerung der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt wirklich stattfindet. Wir haben die Sorge,
die Befürchtung und auch die sichere Erkenntnis, dass hier wieder eine Zuwanderung in die
sozialen Sicherungssysteme stattfinden wird. Das ist der Grund dafür, dass wir Nein
sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das sieht die Wirtschaft ganz
anders!)
Da Sie uns vielleicht nicht sofort glauben, muss ich Sie einfach noch einmal an das
erinnern, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zusammen mit dem
Deutschen Gewerkschaftsbund Ihnen noch in die Ausschussberatungen hinein geschickt hat,
nämlich dass der geplante § 39 des Aufenthaltsgesetzes geändert werden muss. Es heißt
wörtlich:
Die Vorschrift sieht in ihrer derzeitigen Fassung vor, dass die örtlichen Arbeitsämter
jeweils nach Ermessen ihr eigenes Zuwanderungsprogramm festlegen können.
(Rüdiger Veit [SPD]: Deswegen haben wir es doch geän dert! Auf Ihren Vorschlag! - Dr.
Michael Bürsch [SPD]: Frau Dr. Merkel, es ist geändert! Lesen Sie den neuen Entwurf!)
Aufgrund wechselnder regionaler und politischer Interessenlagen werden auf diese Weise
unvorhersehbaren und willkürlichen Entscheidungen Tür und Tor geöffnet.
(Beifall bei der CDU/CSU - Ludwig Stiegler [SPD]: Die ist von vorgestern!)
Das haben sie nicht im Januar geschrieben, sondern das haben sie jetzt aufgrund der
Veränderung geschrieben.
(Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben wir doch geändert! "Regional" ist
gestrichen!- Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir haben verstanden! Das ist alles geändert!)
Sie haben nichts weiter geändert, als dass Sie das Benehmen mit den Landesarbeitsämtern,
die übrigens der Bundeskanzler abschaffen will, herstellen. Sonst haben Sie nichts
geändert und Sie haben die Bedingungen des DGB und der BDA nicht erfüllt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie
möchten, dass die weitere Diskussion sachlich geführt wird. Wir sind an dieser
sachlichen Diskussion interessiert.
(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der SPD)
Sie haben gesagt, Sie möchten nicht, dass der Bundesrat missbraucht wird. Genau daran
sind auch wir interessiert.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es gibt für den Bundesrat ganz einfache Verfahrensvorschriften: Koalitionsregierungen
haben Verträge abgeschlossen, nach denen werden die Entscheidungen gefunden. Insofern
sehe ich der Debatte sehr gelassen und sehr ruhig entgegen.
(Sebastian Edathy [SPD]: Seit wann sind Sie Ministerpräsidentin?)
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Interesse an einer
Lösung haben, was Sie hier noch einmal dargestellt haben, dann wundert mich allerdings,
dass Sie hier Vorschläge eingebracht haben und als Erstes haben erklären lassen: Den
Vermittlungsausschuss wird die Bundesregierung aber auf gar keinen Fall an rufen. Was hat
das mit einer sachlichen Diskussion zu tun, Herr Bundeskanzler?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin Merkel, bei aller Großzügigkeit, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Deshalb, Herr Bundeskanzler,
kann ich Ihnen nur sagen: An uns soll es nicht liegen.
(Lachen bei der SPD - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Nur Mut, Frau Merkel! - Kerstin Müller
[Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch ein bisschen Vermittlungs ausschuss, da kommt
bestimmt etwas heraus!)
Falls Ihr Redebeitrag zum Ende der heutigen Debatte den Sinn und den Zweck hatte, noch
einmal deutlich zu machen, dass weder Druck ausgeübt noch eine unsachliche Diskussion
geführt werden soll und Sie, so wie wir, keine Angst vor dem Austauschen
unterschiedlicher Argumente haben,
(Zuruf von der SPD: Sie haben doch überhaupt nichts zur Sache gesagt!)
weil immer es um die Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland geht, dann machen wir
dabei gerne mit.
(Sebastian Edathy [SPD]: Lesen Sie einmal den Rede beitrag von Herrn Glos nach!)
Wir haben in der Bevölkerung viel Verständnis für unsere Position; dessen bin ich mir
ganz sicher.
Herzlichen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)
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