Rede der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein Heide Simonis (SPD) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat

vom 22. März 2002


Heide Simonis (Schleswig-Holstein): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gestaltung der Zuwanderungspolitik durch das Zuwanderungsgesetz, über das wir heute diskutieren, ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft unseres Landes. Es setzt unseren Mut voraus - Mut zur Anerkennung der Realitäten in unserem Land, Mut, unsere Interessen zu benennen, aber auch Mut, die Bedürfnisse und die Interessen der über sieben Millionen Ausländer, die bei uns leben, arbeiten, Steuern zahlen und sich heimisch fühlen, anzuerkennen.

Wir entscheiden heute mit dem Zuwanderungsgesetz auch über den Wirtschafts-und Bildungsstandort Deutschland, über den sozialen Frieden und die Außendarstellung Deutschlands. Bleiben wir weiter ängstlich am Trugbild einer homogenen Nation haften, oder sind wir souverän und weltoffen?

Die Stimmen, die in den letzten Tagen zu hören waren, lassen an manchen Stellen den Eindruck entstehen, es mangele an der Bereitschaft, sich mutig und ohne auf einen Wahltermin zu schielen mit diesem Thema zu befassen. Ich wünsche mir, dass wir uns im Bundesrat, dem Stil des Hauses angemessen, mit Sachargumenten auseinander setzen und am Ende vielleicht sogar eine Lösung finden.

Nicht bundesweite Zuzugszahlen - welcher Gruppe auch immer - bestimmen unsere Zukunft, sondern ganz konkret die Aufnahme und das Zusammenleben vor Ort. Vor Ort finden Firmen qualifizierte Mitarbeiter, vor Ort leben Menschen in guter Nachbarschaft zusammen, vor Ort haben auch Kinder von Migranten Bildungschancen - oder auch nicht.

Wer sich die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes unvoreingenommen ansieht, erkennt die deutlichen Verbesserungen und die eingearbeiteten Kompromisslinien gegenüber dem jetzigen Rechtszustand. Hierin sind Vorstellungen der CDU ebenso zu finden wie solche der FDP und der Koalition aus Grünen und SPD.

Wie will man eigentlich den Menschen erklären, dass man ein Gesetz ablehnt, in dem sich vieles von dem wiederfindet, was von den Parteien in der Öffentlichkeit politisch formuliert worden ist? Wie will man erklären, dass man nicht möchte, dass das zersplitterte und von Sonderregelungen geprägte Ausländerrecht zu einem abgestimmten Regelwerk zusammengeführt und vereinfacht wird?

Es geht doch im Grundsatz um die Gestaltung der Zuwanderung, um die Integrationsfähigkeit und die Integrationsmöglichkeiten in unserem Land sowie um wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Interessen. Letztlich geht es - das sollten wir nicht vergessen - um die Erfüllung unserer humanitären Verpflichtungen.

Der vorgelegte Kompromiss enthält ausdrücklich die von der CDU geforderte Zielbestimmung der Zuwanderungsbegrenzung. Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Ablehnung des Gesetzes von der Sache her vermittelbar ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Gewerkschaften, Kirchen, viele Gruppen in unserer Gesellschaft, viele Menschen, die Mehrheit sogar, aber auch die Wirtschaftsverbände sprechen sich seit langem für dieses Gesetz aus - und das nicht ohne Grund.

Unstreitig dürfte sein, dass trotz der hohen Arbeitslosigkeit in hoch technologischen Teilarbeitsmärkten, insbesondere in der Biotechnologie und in der Informations-und Kommunikationstechnologie, ein Mangel an qualifizierten Fach-und Führungskräften besteht. Schon heute versuchen Kollegen von mir, Pflegekräfte im Ausland anzuwerben, weil nur so eine humane Pflege in Krankenhäusern und Pflegeheimen garantiert werden kann. Der hier bestehende Bedarf, den wir alle kennen und der von der Industrie oder von den Institutionen immer wieder vorgetragen wird, wird weder durch verstärkte Aus-und Weiterbildung noch durch intensive Aktivierung des inländischen Arbeitskräftepotenzials in ausreichendem Maße gedeckt werden können. In Anbetracht des stetig steigenden Wettbewerbsdrucks und eines beschleunigten Wandels in der Arbeitswelt ist daher der Zuzug hoch qualifizierter Arbeitskräfte unumgänglich, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland nachhaltig zu sichern und zu fördern.

Unser Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter besonderen Schutz. Das muss auch für die Menschen gelten, die zu uns kommen, zumal wir von ihnen verlangen, dass sie sich nach unserem Grundgesetz richten. Das Zuwanderungsrecht kann bestimmte Anforderungen z.B. an die Aufenthaltsdauer oder die Unterhaltsfähigkeit stellen, es kann aber nicht den Ehegattennachzug insgesamt verhindern. Ebenso ist es beim Kindernachzug, der im Übrigen zahlenmäßig keine Rolle spielt.

Das geltende Recht sieht hier eine Altersbeschränkung von 16 Jahren vor. Das Zuwanderungsgesetz setzt für den Nachzug eine Grenze von zwölf Jahren, setzt diese Grenze also noch herab. Darüber hinaus kann ein Nachzug unter Berücksichtigung des Kindeswohls, der familiären Situation und der Erwartung, dass sich das Kind integrieren wird, zugelassen werden. Das ist meiner Meinung nach das Mindestmaß dessen, was unser Grundgesetz fordert.

Wenn im politischen Raum sogar jetzt noch die Forderung erhoben wird, das Zuzugsalter von Kindern auf drei Jahre zu begrenzen, weiß ich wirklich nicht mehr, ob wir mit Recht behaupten können, wir hielten uns an unser Grundgesetz.

Auch bei der Aufnahme von Asylbewerbern und anderen Flüchtlingen gelten die Vorgaben des Grundgesetzes und der Genfer Flüchtlingskonvention. Asylberechtigte genießen Schutz, ebenso ausdrücklich die Opfer geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung. Das öffnet keine Tore, sondern entspricht anerkannten humanitären Standards, die jetzt auch von der Europäischen Union aufgegriffen und in eine Richtlinie gegossen werden sollen.

Auf dieser Grundlage beschleunigt das neue Gesetz die Verfahren im Interesse der Schutzbedürftigen. Damit wird es allerdings auch unattraktiv für jene, die an langwierigen Verfahren interessiert sind.

Vor allem enthält das Gesetz endlich eine Härtefallregelung. Hierfür hat sich die Schleswig-Holsteinische Landesregierung seit langem mit Nachdruck eingesetzt. Die Arbeit unserer Härtefallkommission hat zahlreiche Schicksale aufgezeigt, bei denen die Ausreisepflicht für die Betroffenen eine nicht erträgliche Härte darstellte und bei denen Unterstützung aus der Bevölkerung, aus der Unternehmerschaft, aus den Kirchen, aus Verbänden und Vereinen sowie aus Klassen, die für ihre Klassenkameradinnen und Klassenkameraden gesprochen haben, an uns herangetragen worden ist.

Dass hierbei auch von einigen CDU-regierten Ländern Zustimmung signalisiert wurde, bedeutet, sie müssen dieselbe Erfahrung wie ich gemacht haben, nämlich in einem solchen Fall, der einem menschlich sofort einleuchtet, nach Gesetzeslage schlichtweg Nein sagen zu müssen.

Gott sei Dank greift das Zuwanderungsgesetz diese Forderungen auf. Es bietet den Ländern die Möglichkeit, Härtefallkommissionen einzurichten. Ein Land kann allerdings auch darauf verzichten, wenn kein Bedarf besteht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Schleswig-Holstein stimmt dem Gesetz zu. Wir wissen, dass es ein Kompromiss ist. Wir hätten gern ein bisschen mehr erreicht, aber in der Gesamtschau überwiegen im Bereich des Zuwanderungsrechts eindeutig die Vorzüge des Gesetzes.

Endlich wird anerkannt:Deutschland ist ein Zuwanderungsland! Dies wird erstmalig in gut handhabbares, flexibles und zukunftsweisendes Recht umgesetzt.

Das Gesetz stellt hohe Anforderungen an die Länder, wenn es um die Integration geht. Die Schleswig-Holsteinische Landesregierung begrüßt es, dass das Zuwanderungsgesetz erstmalig Regelungen zur Integration enthält. Diese berücksichtigen allerdings nicht, dass die Länder Integrationsleistungen erbringen, die die Leistungen des Bundes um ein Vielfaches übersteigen. Aus unserer Sicht entspräche es einer gerechten Lastenverteilung, wenn der Bund die Kosten für die Integrationskurse voll trüge. Dies hat der Bundesrat im ersten Durchgang auch empfohlen.

Schleswig-Holstein stimmt dem Zuwanderungsgesetz zu. Mit diesem Gesetz würde der Bundestag eine gute Basis für die künftige Gestaltung der Zuwanderung erhalten. Wir werden aber unsere Möglichkeiten nutzen, um bei der Ausgestaltung der Integrationskurse und der Entwicklung des Integrationsprogramms unsere Erfahrungen und Vorstellungen einzubringen. Wir meinen, dass wir dazu gute Angebote vorlegen können. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Dieses Dokument ist Bestandteil von
Zur documentArchiv.de-Hauptseite

Weitere Dokumente finden Sie in den Rubriken


19. Jahrhundert

Deutsches Kaiserreich

Weimarer Republik

Nationalsozialismus

Bundesrepublik Deutschland

Deutsche Demokratische Republik

International

 

Quelle: Bundesrat, Stenographischer Bericht der 774. Sitzung vom 22.03.2002 (Plenarprotokoll 774).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein Heide Simonis (SPD) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat (22.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_simonis_zuwanderungsgesetz.html, Stand: aktuelles Datum.


Diese Dokumente könnten Sie auch interessieren:
Reden zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002):
Rüdiger Veit (SPD), Friedrich Merz (CDU), Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grüne), Dr. Max Stadler (FDP), Petra Pau (PDS), Dr. Michael Bürsch (SPD), Michael Glos (CSU), Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus [I] (PDS), Sebastian Edathy (SPD), Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Christel Riemann-Hanewinckel (SPD), Christa Lörcher (fraktionslos), Leyla Onur (SPD), Otto Schily (SPD), Wolfgang Bosbach (CDU), Gerhard Schröder (SPD), Dr. Angela Merkel (CDU), Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus [II] (PDS), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
Reden zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern [Zuwanderungsgesetz] im Bundesrat (22.03.2002):
Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, Sachsen (CDU); Heide Simonis, Schleswig-Holstein (SPD); Peter Müller [I], Saarland (CDU); Kurt Beck, Rheinland-Pfalz (SPD); Roland Koch, Hessen (CDU); Sigmar Gabriel [I], Niedersachsen (SPD); Jörg Schönbohm, Brandenburg (CDU); Dr. Fritz Behrens, Nordrhein-Westfalen; Herbert Mertin, Rheinland-Pfalz (FDP); Ruth Wagner, Hessen (FDP); Dr. h. c. Manfred Stolpe, Brandenburg (SPD); Otto Schily [I], Bundesinnenminister (SPD); Dr. Edmund Stoiber, Bayern (CSU); Otto Schily [II], Bundesinnenminister (SPD); Peter Müller [II], Saarland (CDU); Sigmar Gabriel [II], Niedersachsen (SPD); Dr. Günther Beckstein, Bayern (CSU); Otto Schily [III] (SPD)
Wortlaut der Abstimmung des Bundesrats über das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) und die daraus resultierenden Anträge bezüglich des festgestellten Abstimmungsergebnisses (22.03.2002)
Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 im Schloss Bellevue in Berlin (20.06.2002)
Begleitbrief des Bundespräsidenten Johannes Rau an den Bundeskanzler und die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat bezüglich der Unterzeichnung des Zuwanderungsgesetzes (20.06.2002)
Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern [Zuwanderungsgesetz] (20.06.2002)


Dieses Dokument drucken!
Dieses Dokument weiterempfehlen!
Zur Übersicht »Bundesrepublik Deutschland« zurück!
Die Navigationsleiste von documentArchiv.de laden!


Letzte Änderung: 03.03.2004
Copyright © 2002-2004 documentArchiv.de