Rede des Abgeordneten Sebastian Edathy (SPD) zum Entwurf eines
Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses
90/Die Grünen im Bundestag
vom 1. März 2002[1]
Sebastian Edathy (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Erlauben Sie mir, zu Beginn meiner Rede aus einem Plenarprotokoll zu zitieren. Das Zitat
lautet:
Meine Herren, bei uns ist man im Gegensatz zu anderen Ländern, die froh sind, wenn sie in
jeder Beziehung tüchtige Ausländer als Bürger erwerben können, von einem
außerordentlichen Misstrauen gegen die Aufnahme von Ausländern beherrscht und legt
dieser Frage ganz kolossale Wichtigkeit bei.
Dieser Satz ist in diesem Gebäude gesagt und von Stenografen mitgeschrieben worden. Er
stammt von dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Otto Landsberg aus einer
Reichstagsdebatte vom 27. Februar 1912. Wer am Tag dieser Debatte geboren worden ist, in
der von diesem außerordentlichen Misstrauen gegen Ausländer die Rede war, der konnte
vorgestern seinen 90. Geburtstag feiern.
Wir als Parlamentarier tragen Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft in diesem Land
und in dieser Gesellschaft. Wenn ich von Zukunft spreche, Herr Glos und Herr Merz,
dann meine ich nicht die verbleibenden Monate bis zur nächsten Wahl, sondern denke, dass
wir uns bei Zukunftsfragen daran orientieren müssen, wie dieses Land in 10, 20, 30 oder
40 Jahren aussehen soll. Daran müssen wir unsere Entscheidungen messen und ausrichten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Menschen in Deutschland werden irgendwann in einigen Jahrzehnten, wenn der 14. Bundestag
längst Geschichte ist, die heutige Debatte möglicher weise nachlesen. Sie werden sich
dann die Frage stellen, inwieweit sich die demokratische Elite dieses Landes - ich betone:
demokratische Elite - als fähig erwiesen hat, auch schwierige Fragen mit Vernunft und
Augenmaß zu behandeln. Herr Glos, den Finger in den
Mund zu stecken und dann in den Wind zu halten, das ist kein Politik-Ersatz.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Kein Politik-Ersatz, sondern verantwortungslos ist auch, Ängste zu missbrauchen. Wir als
Demokraten haben die Aufgabe, Ängste ernst zu nehmen, zu hinterfragen und mit den
Bürgern zu sprechen. Wir haben nicht die Aufgabe, Ängste zu instrumentalisieren und
Wasser auf Mühlen der Feinde der Demokratie zu lenken, wie Sie das hier zumindest
angedeutet haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Thema Zuwanderung ist ein schwieriges Thema in Deutschland,
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das merkt man bei Ihnen, bei Ihrer Rede!)
vor allem deshalb, weil es über Jahrzehnte tabuisiert worden ist. Der Um gang mit dem,
was man als fremd empfindet, ist nie leicht.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind dem Thema nicht gewachsen!)
Er berührt nicht zu letzt das eigene Selbstverständnis. Wo es an einem stabilen,
aufgeklärten und demokratischen Selbstverständnis fehlt, wird der Umgang mit dem Fremden
oder vermeintlich Fremden oft irrational.
Weil ich glaube, dass dies eine historische Stunde ist, will ich deutlich sagen, dass die
Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland mit der Perversion, Fremdes zum Feind und zum
Objekt von Vernichtung zu erklären, die notwendige Entwicklung einer Debatte in
Deutschland unterbrochen hat, die Otto Landsberg hier vor 90 Jahren mit angestoßen hat
und der wir uns durch einen sachlichen Umgang mit dieser schwierigen Frage wieder nähern
müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das auch anders geht, ist mir unter anderem in einem
Gespräch mit einer niederländischen Parlamentskollegin deutlich geworden. Ich fand es
sehr bemerkenswert, dass sie die Menschen, die in die Niederlande kommen und dort eine
dauerhafte Bleibeperspektive haben, nicht als Fremde, sondern als Neulinge bezeichnet hat.
Man muss sich das einmal vor Augen führen. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, den wir
uns - auch in anderen Fällen könnten wir uns an unseren niederländischen Nachbarn
orientieren - zu Eigen machen sollten.
Die Zuwanderung nach Deutschland, und damit verbunden die Frage der Integration von
Zuwanderern, ist ein so stark ideologisch geprägtes Themenfeld wie kaum ein anderes.
Über Jahrzehnte hinweg hat die politische Rechte dieses Landes behauptet - heute ist das
in den Reden von Herrn Glos und Herrn Merz wieder deutlich geworden -, dass jeder Zuwanderer
eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität unserer Gesellschaft
sei.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)
Umgekehrt haben manche, die sich als politisch links verstanden haben oder verstehen,
bisweilen den Eindruck erweckt, als sei jeder Zuwanderer potenziell ein besserer Deutscher
als die Deutschen. Beides sind fantasiebehaftete Bilder, die lange Zeit den Blick auf die
Realität verstellt haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In dem einen Fall geschah das in Form von Angstfantasien und in dem anderen Fall in Form
von Wunschfantasien.
Wenn es richtig ist, dass gute Politik die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen muss, dann
sollten wir uns dem Thema Zuwanderung so nähern, wie es Bundespräsident Johannes Rau in
seiner Berliner Rede im Jahre 2000 auf den Punkt gebracht hat, als er formulierte:
"ohne Angst und ohne Träumerei". Dieses Motto sollte uns bei der
Entscheidungsfindung heute und in Zukunft leiten.
Jeder zehnte Bewohner dieses Landes besitzt nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Viele
von ihnen haben in Deutschland eine neue oder zumindest eine zweite Heimat gefunden. Es
gibt in diesem Land 800.000 Ehen zwischen deutschen und ausländischen Partnern.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist gut!)
Wenn man es herunterrechnet, kommt man auf 2.500 pro Wahlkreis. Herr Glos, ich nehme an, dass das auch für die bayerischen
Wahlkreise gilt.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Ja sicher, ich habe sogar eine Schwiegertochter aus dem Ausland!)
Zuwanderung ist Realität. Wir haben uns aber viel zu lange den Luxus geleistet, diese
Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf historisch
wichtig und bedeutsam. Es steht dort, dass er von der Bundesregierung und von Rot-Grün
erstellt wurde. Vom Inhalt her ist er jedoch im Grunde ein Allparteiengesetzentwurf. Jede
politische Farbe außer dunkel schwarz und braun ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. Er
ist ein ernsthaftes Angebot für einen Konsens, dem wir uns gemeinsam nicht verweigern
sollten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es geht um drei Dinge:
Erstens geht es darum, das Ausländerrecht so verständlich zu machen, dass es auch für
jemanden, der kein Fachanwalt ist, nachvollziehbar wird.
Zweitens geht es darum, dass die Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive
nach Deutschland kommen, bessere Integrationsbedingun genvorfinden.
Drittens geht es darum, dass wir die Verantwortung für die Erfüllung humanitärer
Pflichten übernehmen und Zuwanderung auch unter wohlverstandenen eigenen Interessen
organisieren.
Herr Glos, wenn es für einen Ausländer leichter ist,
Fußballprofi bei Bayern München zu werden, als Abteilungsleiter in einem Münchener
Unternehmen, dann sollte das auch der Bayerischen Staatskanzlei zu denken geben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Als wir vor zwei Jahren mit der sachlichen Debatte begonnen haben, haben die Beteiligten
die Lippen gespitzt. Ich habe die Hoffnung, dass alle nun auch bereit sind zu pfeifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben wir hier dem UNO-Generalsekretär stehend
Beifall gezollt, als er zu Recht auf die gewachsene internationale Verflechtung der
Politik und auf die Tatsache, dass das Maß an wechselseitiger Abhängigkeit auf diesem
Erdball zugenommen hat, hinwies. Deshalb können Sie von der Union sich heute doch nicht
hier hinstellen und Deutschland zur Osterinsel erklären.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: So ein
Quatsch, Sie Osterhase!)
Es stellt sich nicht nur die Frage, in welchem Land Sie leben, sondern auch, auf welchem
Planeten.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Unsinn!)
Es geht darum, die Chancen bei der Zuwanderung zu nutzen und die Risiken zu minimieren.
Genau das tun wir. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich hoffe, dass Sie sich
dem möglichen und greifbar nahen Konsens im Interesse unseres Landes nicht verweigern.
Die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die Sozialverbände und die Kirchen sagen begründet
und zu Recht, dass dieses Land gerade beim Umgang mit Zuwanderern keine Politik der
geballten Faust, sondern eine Politik der ausgestreckten Hand braucht. Das Angebot dazu
liegt heute vor.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zum Schluss meines Beitrages. Ich habe gelesen, dass die Kollegen Blüm,
Geißler, Schwarz-Schilling und Süssmuth die Nein-Sagerei der Opposition nicht mitmachen
wollen. Ich sage eindeutig: Nein sagen ist keine Kultur, auch keine Leitkultur, sondern
eine Unkultur, der Sie sich heute nicht verschreiben sollten. Übrigens sind die genannten
Kollegen von der Union einmal Grund für mich gewesen, Sozialdemokrat zu werden. Umso
erfreuter bin ich, dass diese gestandenen Leute - ich glaube, es ist das halbe Kabinett
des Jahres 1985, von der FDP einmal abgesehen - mit der Koalition stimmen wollen. An
dieser Stelle ein ganz besonderer Dank an Frau Süssmuth, die sich in der Kommission viel
Arbeit gemacht hat; Sie sollten das nicht kleinreden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und
der PDS)
Wir sollten vermeiden, für das Linsengericht eines vermeintlichen - ich betone:
vermeintlichen - parteitaktischen Vorteils den Eindruck zu erwecken, wir würden ein
halbes Jahr vor der Bundestagswahl in Deutschland die Politik einstellen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie doch einmal zur Sache!)
Wir müssen auch bei schwierigen Fragen sachliche, vernünftige und an gemessene Antworten
geben. Eine Antwort auf ein ganz, ganz wichtiges Themenfeld haben Regierung und Koalition
vorgelegt. Stimmen Sie bitte zu! Es gibt keinen Grund, nicht zuzustimmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
|