(Erste) Rede des Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen
Sigmar Gabriel (SPD) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
(Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat
vom 22. März 2002
Sigmar Gabriel (Niedersachsen): Herr Präsident, meine Damen und
Herren! Nach den Bemerkungen von Herrn Müller
und von Herrn Koch habe ich gedacht, dass
es gut ist, den Gesetzestext zum Rednerpult
mitzunehmen. Manchmal erweitert ein Blick in das Gesetz,
über das wir abstimmen, die Rechtskenntnis. Wenn man die Reden derjenigen, die das Gesetz ablehnen, gehört hat, könnte man den Eindruck
gewinnen, dass ihre Behauptungen in Bezug auf den Gesetzestext
zutreffen. Es ist einfacher vorzulesen, was im Text steht; das hilft bei der
Entscheidungsfindung.
Herr Kollege Koch, zu Beginn möchte ich
gerne zu zwei Punkten etwas sagen, mit denen Sie Ihre Rede eingeleitet haben. Ich habe genau
zugehört. Sie haben gesagt: Wir sind eine zweite Kammer, ein zweites Parlament; es kann
doch wohl nicht sein, dass für die Länder Einzelne entscheiden. - Meine erste Frage an
Sie ist: Wieso sind Sie dann zu zweit hier abstimmungsberechtigt und nicht zu fünft?
Warum geben Sie dann in Ihrer Koalition die Abstimmung nicht frei, statt sich zu enthalten
und damit mit Nein zu stimmen? Das wäre doch hilfreich; dann bräuchten wir diese
Koalitionsklauseln nicht mehr.
(Roland Koch [Hessen]: Ich ändere mein Verhalten nicht!)
Wenn Ihre Linie konsequent wäre, hätten wir ein Problem weniger. Koalitionen könnten
hier immer frei abstimmen, so wie es im Parlament von Hessen vermutlich üblich ist. So
etwas wie die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten wird es nicht geben, sondern
frei gewählte Abgeordnete, die Fahrkosten erhalten, stimmen frei über die Sache ab. Das
habe ich verstanden.
Zweitens würde mich interessieren, weshalb wir hier Länder aufrufen und nicht schlicht
fragen, wie die Abstimmung abläuft; dann melden sich sechs Mitglieder bei Bayern, sechs
bei uns, bei Ihnen fünf und bei anderen drei. Hier läuft ein absurdes Theater ab. Es
wird eine Debatte eingeleitet, bei der es nicht mehr um die Sache geht, weil sich die
gesamte Diskussion zurzeit nicht mehr um die Sache dreht. In Wahrheit geht es natürlich
um die Frage: Wer stellt in Deutschland das politische Alpha-Tier? Ich finde, wir müssen
mit dem brechen, was wir hier tun. Wir tun so, als diskutierten wir über die Sache. In
Wahrheit geht es nebenan um die Frage: Wie sichern wir die politischen Vorstellungen, die
die Einzelnen haben? - Dazu will ich gleich etwas sagen.
Ich fand es interessant, wie Sie die Verfassung
auslegen. Ich halte es übrigens für ein Problem, Herr Kollege Koch, wenn einzelne Länder anderen Ländern
hinsichtlich ihres Verfahrens erklären, was politisch richtig ist. Das hat mit der
Tradition des Bundesrates nicht sehr viel zu tun. Wie gesagt, ich schlage vor: Es gibt
auch bei Ihnen keine Enthaltung, sondern eine schöne Abstimmung. Jeder darf so abstimmen,
wie er will. Dann bewegen wir uns wieder auf einer gemeinsamen Grundlage, Herr Kollege Koch, und einigen uns vielleicht.
(Roland Koch [Hessen]: Wenn das für alle gilt, mache ich mit!)
- Dann sind wir einmal gespannt.
Herr Kollege Koch, Sie haben gesagt: Wir
müssen endlich sehen, dass wir Probleme mit der Zuwanderung haben. Sie haben von 200 000
Menschen gesprochen. Einige haben gesagt: Die Menschen draußen wollen zwar eine Einigung,
aber sie haben auch Sorge vor Zuwanderung, weil die Integrationskraft sie
überfordern könnte. Das stimmt. Was mich interessiert, ist: Warum reden wir dann
eigentlich nicht über die größten Probleme der Zuwanderung, sondern über ganz andere
Themen?
Die größte Gruppe von Zuwanderern sind Spätaussiedler. Aus dieser Gruppe sind in
den letzten Jahren und Jahrzehnten 4,1 Millionen Menschen zu uns
gekommen, mit denen wir keinerlei Integrationsprobleme hatten. Das ist die Gruppe, die
sich am besten bei uns integriert hat. Sie trägt zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
bei, und sie beherrscht die deutsche Sprache häufig sehr gut. Aber wir stellen auch fest,
dass sich das seit einigen Monaten und Jahren völlig verändert hat.
Inzwischen können drei Viertel derjenigen, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen
Sowjetunion zu uns kommen, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit in ihrer Familie
nachweisen. Sie kommen im Wege des Familiennachzugs und können nicht deutsch
sprechen.
Herr Kollege Biedenkopf, wissen Sie,
worin meiner Meinung nach das größte Problem der deutschen Politik liegt? Nicht nur in
der Frage des Umgangs mit der Demografie, sondern auch darin, dass wir hier eine Vieraugengesellschaft
geworden sind. Unter vier Augen sagen wir uns immer, wo die Probleme liegen, aber wenn
eine Kamera dabei ist und die Mikrofone eingeschaltet sind, tun wir das nicht mehr. Unter
vier Augen sagen wir uns: Hier liegt das größte Integrationsproblem, das wir zurzeit
haben. Unter vier Augen sagen wir uns, dass die Haftanstalten voll belegt sind mit jungen
Menschen aus der Gruppe der Spätaussiedler, die in den letzten Jahren gekommen sind.
Unter vier Augen sagen wir uns, dass in dieser Gruppe eigene Steuersysteme, eigene
Rechtssysteme existieren und dass wir in Bezug auf diesen Bereich massive Probleme haben.
Unter vier Augen sagen wir uns, dass unsere Bevölkerung nicht differenziert zwischen
Asylbewerbern, Arbeitsimmigranten und Spätaussiedlern. Unter vier Augen sagen wir uns,
dass bei uns über die "Russen" geredet wird, die da gekommen sind, jedoch nicht
über Spätaussiedler. Aber wir sind nicht bereit, Herr Kollege Koch, dieses Problem anzugehen. Wir reden
nicht über die größte Gruppe, mit der wir die meisten Probleme haben.
Wir müssen an dieser Stelle das Vertriebenengesetz ändern, übrigens nicht gegen
Spätaussiedler. Wir müssen nur gleiches Recht für alle Spätaussiedler schaffen; denn
wir haben heute ein Recht, nach dem der Spätaussiedler aus Polen oder dem Baltikum
nachweisen muss, dass bei ihm individuelle Verfolgung besteht. Nur, diejenigen, die aus
Kasachstan oder aus Russland kommen, müssen das nicht tun. Deswegen kommen von dort 100
000 pro Jahr. Daraus resultieren riesige Probleme, übrigens auch in Frankfurt, wie ich
weiß. Lassen Sie uns doch einmal darüber sprechen, wie ernst es der Union damit ist, die
zentralen Integrationsprobleme in diesem Land zu lösen!
Ich stimme dem Kollegen Biedenkopf
ausdrücklich darin zu, dass die zentralen Integrationsprobleme nicht mit Sprachkursen zu
lösen sind. Das ist, wenn Sie so wollen, ein kleiner Mosaikstein. Wir müssen eine
Bildungspolitik machen, bei der Kinder, die in die deutsche Grundschule kommen, die
deutsche Sprache beherrschen und nicht erst dann beginnen, sie zu lernen.
Wir müssen darauf achten, dass Integration nicht nur gefördert, sondern auch
gefordert wird. Wir müssen dafür sorgen, dass wir bei der sozialen Stadtteilsanierung
das, was wir an Ghettoisierung in einigen Bereichen leider erleben, endlich zurückführen
und zu anderen Formen des Zusammenlebens kommen.
Wir alle müssen übrigens dafür sorgen, dass wir zu einer Art
"Software-Integration" kommen. Wir brauchen nicht unbedingt immer mehr
Sozialarbeiter und neue Einrichtungen, sondern einmal eine türkische Mutter im
Elternbeirat. Wir brauchen nicht die Gründung türkischer Fußballvereine, sondern die
Integration der türkischen Jugendlichen in die deutschen Vereine und vieles andere mehr.
Das sind Formen der Integration, um die wir uns bemühen müssen.
Auch hier hat Herr Kollege Biedenkopf
Recht, wenn er sagt: Dazu brauchen wir die Zustimmung unserer Bevölkerung. Ohne sie ist
das nicht möglich. Nur, wie wollen wir ihre Zustimmung erreichen, wenn wir bei diesem
Thema hier absurdes Theater spielen, obwohl wir in der Mehrheit wissen, Herr Kollege Müller, dass wir nur Millimeter
voneinander entfernt sind - wir wissen es; ich habe die berühmte Vieraugengesellschaft
genannt - , aber öffentlich so tun, als seien wir meilenweit auseinander? Wie wollen wir
die Menschen bei diesem schwierigen Thema mitnehmen, wenn wir das Vorhaben heute nur aus
einem Grunde scheitern lassen wollen, nämlich weil Wahlen vor der Tür stehen, obwohl wir
alle wissen, dass wir nach den Wahlen möglicherweise zu exakt dem gleichen Gesetz kommen?
Herr Kollege Koch, es geht nicht um den
Vermittlungsausschuss, den wir nicht anrufen wollen; denn es ist in letzter Zeit
unglaublich viel passiert. Aus Ihrem 16- Punkte- Katalog sind zig Forderungen
übernommen worden. In 18 Punkten ist uns die Regierung entgegengekommen. Alle
Positionen, die in der letzten Bundesratssitzung des vergangenen Jahres aufgezählt worden
sind, sind in die Änderungen eingegangen.
Ich plädiere dafür: Lassen Sie uns einmal über die ernsthaften Integrationsprobleme
reden, über jene, die wir jeden Tag vor der Tür erleben und von denen wir alle wissen,
dass wir sie eigentlich nicht gelöst haben! Lassen Sie uns dort über Begrenzung reden,
wo Massenzuzug stattfindet! Wir brauchen doch nicht über jene zu reden, deren Schutz vor
geschlechtsspezifischer Verfolgung wir sichern wollen.
Ich schildere nochmals einen Fall, weil ich es entsetzlich finde, dass wir hierfür keine
Lösung haben. Ein 14-jähriges Mädchen wurde von ihrem Vater vergewaltigt. Der Vater
wurde verurteilt und nach Rumänien geschickt. Das Kind wird jetzt 16, und nach den
Buchstaben des deutschen Ausländerrechts ist das Mädchen in den Heimatort des Vaters
abzuschieben. Wir können das Mädchen nur hier behalten, weil wir einen Psychologen
finden konnten, der nachweist, dass das Kind selbstmordgefährdet ist, so dass ein
tatsächliches Abschiebungshindernis besteht. Das ist das deutsche Ausländerrecht von
heute.
Herr Kollege Koch, es ist nun einmal so:
Entweder wir lassen die Behörden nach den Buchstaben des Gesetzes urteilen, oder wir
finden eine flexible Regelung, die immer das Problem mit sich bringt, dass Verwaltung an
Recht und Gesetz und damit an die Buchstaben des Gesetzes gebunden ist. Wenn Sie davon
abweichen wollen, bewegen Sie sich in Grauzonen. Die einfachste Lösung ist, den
Buchstaben des Gesetzes gelten zu lassen. Dann muss das Mädchen nach Rumänien
abgeschoben werden. Das wollen wir nicht. Also wollen wir dem Sinn der Humanität zum
Durchbruch verhelfen. Dafür gibt es jetzt eine Regelung im Gesetz. Dafür haben wir
beide gestritten. Warum stimmen Sie denn jetzt nicht zu?
Wir haben gesagt: Wir wollen keine Festlegung, wer darüber entscheiden soll. Die Länder
sollen das selber regeln. Meine liebste Vorstellung ist, dass der Landtag darüber
entscheidet. Denn ich will auch nicht, dass sozusagen nach dem Motto "Ich will mich
gut stellen" immer Ja und Amen gesagt wird, sondern ich möchte, dass die
Verantwortung der Parlamentarier gefragt ist. Das wäre eine gute Regelung. Ich will
nicht, dass mein Parlament immer wieder sagen muss: Wir wollen eigentlich nicht
abschieben, aber nach den Buchstaben des Gesetzes müssen wir es tun. - Das heißt, es
liegt ein Gesetz vor, mit dem wir dieses Problem
lösen können, aber Sie wollen ihm nicht zustimmen.
Herr Kollege Biedenkopf sagt: Wir
wollen die Menschen mitnehmen, aber wir organisieren einen Streit um des Wahlkampfes
willen. - Wir behaupten, wir wollten die Integrationsprobleme lösen, aber das eigentliche
Problem der Integration der heutigen Generation der Spätaussiedler sprechen wir nicht
einmal an, geschweige denn, dass wir bereit sind, das Vertriebenengesetz zu ändern.
Dann eröffnen wir Scheindebatten. Es wird gesagt, trotz großer Massenarbeitslosigkeit
würden die Tore geöffnet. In § 39 steht:
Die Bundesanstalt für Arbeit kann der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung
einer Beschäftigung . . . zustimmen, wenn sich durch die Beschäftigung von Ausländern
nachteilige Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt nicht ergeben.
Was wollen Sie eigentlich mehr? Es geht doch nicht darum, dass wir Masseneinwanderung
zulassen. Es geht darum, dass wir die nationalen Interessen in Deutschland endlich einmal
bestimmen können und ihre Berücksichtigung auch bei der Arbeitseinwanderung zulassen.
In Nordamerika studiert halb Südostasien getreu dem alten deutschen Motto: Man kann aus
jedem guten Ingenieur auch einen guten Kaufmann machen. - Sie absolvieren dort ihr
Postgraduiertenstudium. Die eine Hälfte bleibt dort, die andere Hälfte geht zurück in
die Heimatländer. Was glauben Sie eigentlich, wohin Letztere ihre Unternehmen
orientieren? Jedenfalls nicht nach Deutschland und nach Europa, sondern nach Nordamerika!
Wenn wir an der Weltwirtschaft teilhaben wollen, wenn es um die Entwicklung unserer
Wirtschaft geht, wenn wir dem Wettbewerb standhalten wollen, dann werden wir uns doch wohl
auch am Wettbewerb um Spitzenkräfte beteiligen müssen; Herr Biedenkopf, nicht als Ersatz für gute
Ausbildung bei uns, sondern natürlich im weltweiten Wettbewerb um die besten
Köpfe und die besten Hände. Diese können wir doch nicht mit dem Hinweis
holen: Wir brauchen euch drei Jahre, und dann schicken wir euch wieder nach Hause. - Das
lesen diejenigen, die Deutsch können - notfalls wird es auf Englisch gelesen - , und dann
kommen sie nicht nach Deutschland, sondern sagen sich: Dann gehen wir weiter nach
Nordamerika.
Wir verpassen im Rahmen der Osterweiterung eine echte Chance, wenn wir den Wettbewerb um
die besten Köpfe nicht zulassen, wenn wir ihn nicht annehmen. Wir schaden unseren
Unternehmen. Wir gefährden keine Arbeitsplätze, sondern wir sichern sie, wenn wir das Gesetz verabschieden.
Das Gesetz plädiert doch nicht für
Masseneinwanderung, sondern wenn das nationale Interesse besagt, wir brauchen die
Einwanderung zur Sicherung von Arbeitsplätzen, wollen wir sie ermöglichen, und dort, wo
sie Arbeitsplätze gefährdet, wollen wir sie nicht.
Es waren übrigens CDU-Politiker, die vor nicht allzu langer Zeit gefordert haben, wir
sollten Pflegekräfte aus Polen für die häusliche Altenpflege hereinlassen.
Das halte ich angesichts von über vier Millionen Arbeitslosen für falsch. Es sind
CDU-Politiker, die in den Fremdenverkehrsregionen erklären: Es geht nicht an, dass die
Arbeitsverwaltung die Saisonfachkräfte nur für kurze Zeiträume zulässt. Ihr
müsst das deutlich erweitern. - Warum sagen die CDU-Politiker das? Weil sie wissen, dass
ihre Wirtschaft zu Hause das braucht.
Es ist die bayerische CSU gewesen, der die Green Card nicht weit genug ging und die
dem Bundeskanzler vorgehalten hat: Man darf sich doch nicht nur um IT-Fachkräfte
kümmern. Mit der Blue Card - eine schöne Farbe - muss endlich dafür gesorgt
werden, dass Fachkräfte immer dann, wenn sie gebraucht werden, auch kommen dürfen. - Die
CSU wollte sozusagen darüber hinausgehen. Jetzt verwirklichen wir das, und nun haben alle
Angst vor der eigenen Courage. Was ist das für eine seltsame Debatte, meine Damen und
Herren!
Herr Kollege Müller, zum Thema
"nichtstaatliche Verfolgung und Genfer Flüchtlingskonvention": Ein Blick
ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. In § 60
steht, dass nichtstaatliche Verfolgung nur dann vorliegt, wenn es sich um eine Verfolgung
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention handelt. Was wollen Sie eigentlich mehr?
(Peter Müller [Saarland]: Was steht da noch?)
- Das ist dort fett gedruckt. Deswegen müsste man es eigentlich auch lesen können, Herr Müller. Das ist extra für Sie
hervorgehoben worden, nehme ich an.
(Peter Müller [Saarland]: Was steht da noch?)
- Wir sind jetzt wirklich nahe am Parlament. Wir setzen Herrn Koch um.
(Zuruf Ruth Wagner [Hessen])
- Bitte? - Ich freue mich über jeden Zwischenruf.
Meine Damen und Herren, der nächste Punkt ist die Ausweisung im Regelfall. Herr
Kollege Müller, ich bin gemeinsam mit
den bayerischen Kollegen dafür, dass wir bei denjenigen, die im Verdacht stehen,
terroristische Vereinigungen zu unterstützen, in Deutschland nicht lange fackeln sollten.
Schauen wir wieder ins Gesetz! In § 54 steht: Ausweisung im Regelfall, wenn ein
Ausländer "falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder
Organisationen macht, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtig
sind". Herr Kollege Müller, diese
Menschen können wir nicht nur ausweisen, wenn sie selbst Mitglied in solchen
Vereinigungen sind, sondern schon dann, wenn sie falsche Angaben zu der Frage machen, ob
sie mit solchen Leuten in Verbindung stehen. Weiter geht es nun wirklich nicht! Das ist
schon haarscharf am Legalitätsprinzip vorbei. Was wollen Sie eigentlich mehr?
Wir machen den Menschen, die heute unserer Debatte zuschauen, doch etwas vor, wenn wir
über den Text des Gesetzes "hinweghudeln". Wir können das Gesetz lesen und sagen, was dort vorgesehen ist. Danach
erfüllen wir Ihre Forderungen.
Ich glaube, wir spielen hier ein Stück weit absurdes Theater. Es gibt breite Zustimmung,
aber immer nur unter vier Augen. Öffentlich organisieren wir hier den Showdown, als seien
wir meilenweit von einer Einigung entfernt. Ich glaube, wir spielen Theater in einem
Potemkinschen Dorf, Herr Kollege Müller,
in dem niemand mehr leben und schon gar nicht über das Thema streiten will - weder die
Wirtschaft, die Gewerkschaften noch die Kirchen und die Liberalen in allen Parteien in
Deutschland auch nicht. Niemand in diesem Potemkinschen Dorf will Streit. Wir
möchten die Differenzen nur gern ein bisschen aufrechterhalten, damit wir die
Wählerscharen darauf verweisen können, dass es dort Streit gibt. Ich glaube, wir sollten
uns das ersparen.
Es geht in Wahrheit um Begrenzung und Steuerung, aber bitte auch in der größten und
schwierigsten Gruppe, die wir haben! Es geht um Integration; denn es gibt ein Integrationsversagen
in Deutschland. Aber es geht auch um die Definition nationaler Interessen; wir müssen
dafür sorgen, dass diejenigen, die wir im Wettbewerb brauchen, auch hierher kommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss auf eine Chance für alle politischen
Parteien hinweisen: Es ist nicht so, dass die politischen Parteien in Deutschland gerade
auf einer Welle der Sympathie schwimmen. Wir alle haben hinreichend Probleme mit den
Debatten in wichtigen großen Städten ebenso wie in wichtigen großen Parteien. Ob wir es
wahrhaben wollen oder nicht: Viele Menschen in Deutschland trauen uns, wenn es um die
Interessen unserer eigenen Partei geht, alles zu. Sie trauen uns inzwischen recht wenig
zu, wenn es darum geht, dass wir uns um das Gemeinwohl kümmern. Der Ärger über die
Skandale in der Politik trifft uns alle. Ich meine, er wird noch größer, wenn wir
zeigen, dass wir nicht bereit sind, uns in einer Sache, über die sich im Grunde alle
einig sind, zu bewegen, wenn wir nicht entscheiden, sondern uns in Ränkespielen vor dem
Wahlkampf verlieren.
Bei der heutigen Entscheidung über das Zuwanderungsgesetz
haben wir die Chance zu zeigen, dass wir bei einem wichtigen Thema zusammenkommen können;
denn wir liegen nur noch Millimeter auseinander. Alle wollen das Zuwanderungsgesetz, alle wissen, dass wir es brauchen.
Aber jeden Tag lesen wir in der Zeitung vom Gegenteil. Längst wissen alle: Eigentlich
geht es um Machtpoker.
Wir sollten heute mit der Vieraugengesellschaft Schluss machen und eine große
Koalition zu Stande bringen. Dass dies möglich ist, entnehme ich einem Schreiben von
Frau Professorin Süssmuth und Hans-Jochen Vogel, das, wie ich
meine, allen Ministerpräsidenten in den letzten Tagen zugegangen ist. Ich möchte zum
Abschluss zitieren, was Frau Süssmuth und Herr Vogel schreiben:
Findet das Gesetz eine Mehrheit, würde eine
zentrale gesellschaftliche Frage in einer der Realität und den objektiven Bedürfnissen
und Verpflichtungen unseres Gemeinwesens entsprechenden Weise gelöst. Würde es hingegen
die Mehrheit verfehlen, so käme ein Zuwanderungsgesetz
nicht zu Stande, von dessen Notwendigkeit alle politischen Parteien überzeugt sind und es
blieben weiterhin inhaltlich schon lange überholte und unzulängliche Bestimmungen in
Kraft. Auch wäre die Gefahr groß, dass wiederum emotionalisierte Auseinandersetzungen
über ein Problem geführt werden, bei dem das friedliche Miteinander von Einheimischen
und Zuwanderern im Vordergrund stehen sollte.
Wir bitten Sie deshalb eindringlich, dem Gesetz
zuzustimmen.
Meine Damen und Herren, ich kann dieser Bitte nichts hinzufügen. Die große Koalition ist
sinnvoll und möglich, wenn man sich der Vernunft, nicht nur dem Wahlkampf verpflichtet
fühlt.
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