Rede des Abgeordneten Rüdiger Veit (SPD) zum Entwurf eines
Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses
90/Die Grünen im Bundestag
vom 1. März 2002[1]
Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
[...]
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion, das
Wort.
(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wollen wir nicht auf den Minister warten? - Zuruf von der
FDP: Wir sollten auf den Minister warten!)
Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Berichterstatter bitte vorab und, wie ich
hoffe, ohne Anrechnung auf die Redezeit drei kurze technische Bemerkungen machen:
(Michael Glos [CDU/CSU]: Den Minister interessiert es nicht!)
Erstens. Wir alle hatten sicherlich besonderen Anforderungen bei der zeitlichen
Abarbeitung der gestellten Änderungsanträge zu genügen. Soweit damit Zumutungen für
viele von uns verbunden waren, bitten wir - die Koalitionsfraktionen schließe ich damit
ein - um Verständnis.
Zweitens. Das Gleiche gilt auch für die geringfügige Verspätung bei der Zuleitung der
geänderten Vorlage und des Berichtes. Wir alle wissen und erfahren es immer wieder: Dort,
wo Menschen arbeiten, werden auch Fehler gemacht. Auch die EDV verhindert das gelegentlich
nicht.
Drittens. Wir haben ein paar kleinere Übertragungsfehler im Bericht, nicht im Beschluss,
die ich jetzt zu Protokoll gebe, um das gleich zu Beginn zu klären.
Bei aller Bitte um Verständnis für kleinere Fehler,
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nein, nein! Das Verständnis können Sie nicht erwarten!)
darf ich Ihnen aber auch sagen, dass wir uns darüber freuen und dankbar an erkennen, wie
viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien, im Sekretariat des
Innenausschusses und in den Fraktionen an dem Projekt mitgearbeitet haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir heute eine bedeutungsvolle Debatte führen
und mit einer für die Geschichte unseres Landes wichtigen Entscheidung den
Tagesordnungspunkt abschließen werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist der bedeutungsvolle Minister dazu? - Michael Glos
[CDU/CSU]: Wo ist der Herrenreiter?)
Wir stehen also in diesem Sinne des Begriffes historisch an einer Weichenstellung:
Zum einen wurde das gestern deutlich, als uns der Generalsekretär der Vereinten Nationen,
Kofi Annan, mit anerkennenden Worten zu unserer nach der Wiedervereinigung noch einmal
gewandelten Rolle in der internationalen Völkergemeinschaft bedacht hat. Unser aller
Kurzzeitgedächtnis sollte es viel leicht hergeben, sich daran zu erinnern, dass alle
Abgeordneten dieses Hauses ihm dafür stehend mit Beifall gedankt haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich würde mir auch heute diese weltoffene und auf die Zukunft gerichtete
Betrachtungsweise wünschen, nicht dagegen eine rückwärts gewandte Diskussion auf
Bierzelt- oder Stammtischniveau zu vorgerückter Stunde.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Historisch kann man diesen Tag, meine Damen und Herren, zum anderen aber auch deshalb
nennen, weil wir das zweite große und wichtige innen politische Reformprojekt dieser
Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheitsfraktionen jedenfalls hier im Bundestag
vollenden wollen und werden.
Erstens. Ein von Grundsätzen polizeilicher Gefahrenabwehr bestimmtes Ausländerrecht nach
der von manchem spitzzüngigen Kritiker aufgestellten Maxime: "Die Würde des
Menschen ist unantastbar, alles andere regelt das - alte - Ausländergesetz" wird
durch ein Aufenthaltsrecht ersetzt, das sich an den Aufenthaltszwecken und den
Bedürfnissen der Menschen orientiert.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
Zweitens. Nach jahrzehntelangen Unterlassungen haben wir nunmehr ein Jahrzehnt der
Integration für die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter uns leben
und dieses Angebot brauchen, sowie für diejenigen, die zu uns kommen sollen, geplant.
Drittens. Im Interesse unserer Wirtschaft und unserer Sozialversicherungssysteme wollen
wir Arbeitsmigration organisieren und so steuern, dass sie entgegen mancher dumpfen
Ängste, die bewusst geschürt werden, nicht einheimische Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt verdrängt, sondern dass sie einen Beitrag für zusätzliche
Arbeitsplätze und unser aller Wohlstand und Wohlfahrt leistet.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Viertens. Ohne dass es deswegen einen einzigen Flüchtling in Deutschland mehr geben wird,
werden wir diejenigen, die wir als Verfolgte aus humanitären Gründen aufnehmen wollen
und die bei uns bleiben müssen, mit einem Rechtsstatus versehen, der ihnen eine
dauerhafte Perspektive und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit
ermöglicht. Dadurch werden die Sozialkassen gerade nicht zusätzlich belastet, wie es
einige Politiker der CDU/CSU den Bürgerinnen und Bürgern weismachen wollen.
Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion das nicht hören wollen und
man sie vermutlich auch argumentativ nicht erreichen kann - wovon ich ausdrücklich Frau
Kollegin Professor Süssmuth und die Kollegen Heiner Geißler und Christian
Schwarz-Schilling ausnehmen möchte -, will ich Sie gerne einmal daran erinnern: War es
vor ein paar Monaten nicht noch befreiend, befreiend für uns alle wie auch für das
gesellschaftliche Klima in diesem Land, als Sie im Windschatten der Süssmuth-Kommission
alte, verstaubte, teilweise verknöcherte Dogmen zu Grabe getragen haben?
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Waren wir uns nicht alle - nicht nur die politischen Parteien in diesem Land - einig, dass
Deutschland ein Zuwanderungsland ist, dass es also nicht darum gehen kann, ob Zuwanderung
stattfindet, sondern wie wir Zuwanderung gestalten? Ihr Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat
dagegen die Rolle rückwärts vollendet, indem er laut heutiger Ausgabe der
"Süddeutschen Zeitung" plötzlich wieder ernsthaft bestritten hat, dass
Deutschland ein Einwanderungsland sei.
Wir sind Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in dieser Debatte und in diesem
Gesetzgebungsverfahren schon weit und immer wieder entgegengekommen. Das gilt für den
ursprünglichen Gesetzentwurf von Bundesminister Otto Schily genauso wie für den Entwurf
der Fraktionen.
(Bundesminister Otto Schily betritt den Saal - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP - Michael Glos [CDU/CSU]: Eben ist er zugewandert!)
- Ich freue mich genauso wie Sie darüber, dass der Bundesinnenminister eingetroffen ist.
Wir begrüßen ihn herzlich. So habe ich Ihre Reaktion verstanden.
(Beifall bei der SPD)
Wir haben - ich bitte, das besonders zu beachten - 16 der von Ihnen insgesamt gestellten
91 Änderungsanträge in unseren Änderungsantrag übernommen.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)
- Das ist nicht unglaublich; das ist so, Herr Kollege Merz.
Das können Sie nachlesen. Oder Sie können sich bei den Kollegen aus dem Innenausschuss
sachkundig machen.
Wir haben dem Bundesrat in elf seiner Bedingungen zugestimmt. Wir haben uns in allen
Punkten, die von der Landesregierung von Brandenburg vorgebracht wurden, auf diese
zubewegt. Aber das alles hilft offenbar nichts. Wir könnten Ihnen, ohne ein einziges Wort
daran zu ändern, das Konzept der CDU-Zuwanderungskommission unter dem saarländischen
Ministerpräsidenten Müller mit dem Briefkopf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
vorlegen, und Sie würden dazu wahrscheinlich Nein sagen, bevor Sie es gelesen haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang
Zeitlmann [CDU/CSU]: Warum haben Sie das nicht gemacht? - Michael Glos [CDU/CSU]: Dann
machen Sie das mal!)
- Gerade Sie, Herr Glos, haben es fertig bekommen, den
Gesetzentwurf und die Änderungsanträge von Rot-Grün hierzu als "Mogelpackung"
zu bezeichnen, und das zu einem Zeitpunkt, als Sie die Änderungsanträge noch gar nicht
kennen konnten.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/CSU)
Ihre völlig gewandelte Haltung ist in der Sache durch nichts, aber auch gar nichts
begründet, sondern aus schließlich der Tatsache zu verdanken, dass Ihr nunmehr
gefundener Kanzlerkandidat Ihnen allen "Rechts schwenkt, marsch!" befohlen hat.
Es ficht ihn und womöglich auch Sie nicht an, wenn der Präsident des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, davor gewarnt hat, das Gesetz an wahltaktischen Überlegungen scheitern zu
lassen. Ähnlich haben sich heute der BDI-Präsident Rogowski geäußert, der Vorsitzende
der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Ratsvorsitzende der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock. Der Berliner Kardinal Georg
Sterzinsky hat die von Ihnen verlangten Änderungen an dem Gesetz sogar als eine Schande bezeichnet und uns,
ebenso wie der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, schon kräftig
dafür kritisiert, dass wir etwa bei der Frage des Kindernachzugs alters ein Stück auf
Sie zugegangen sind und uns auf eine Altersgrenze von 12 Jahren verständigt haben.
Es ist uns außerordentlich schwer gefallen, das Gesetz
an dieser Stelle im Bundesrat zustimmungsfähig zu machen; denn es gibt in der SPD - das
wurde im letzten Jahr zweimal ganz klar so beschlossen - die Auffassung, dass das
Kindernachzugsalter einheitlich 18 Jahre betragen müsse. Das entspricht unserem
Familienbild. Wenn wir nun bei einer Altersgrenze von zwölf Jahren für Kinder vom
zwölften bis zum 18. Lebensjahr Ausnahmen aus Gründen des Kindeswohls und besonderer
familiärer Umstände zulassen wollen, dann erwarten wir eigentlich von allen
Familienpolitikern - auch denen von der CDU/CSU; denn Sie halten die Familienpolitik doch
sonst immer besonders hoch - ein ausdrückliches Lob dafür.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wie wahltaktisch Ihre Position motiviert ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es
sich nun wirklich nicht um Massen von allein zu ausländischen Familien nachreisenden
Kindern handeln kann, sondern vielleicht und gerade einmal um einige Hundert bis maximal
2.000 pro Jahr und Jahrgang.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dann kann das Alter ja auf sechs Jahre
gesenkt werden!)
Sie müssen der staunenden Öffentlichkeit einmal erklären, warum Sie einerseits die
aufgrund Ihrer schlechten Familienpolitik zurückgegangene Geburtenrate beklagen,
andererseits aber vor ein paar Hundert Kindern panische Angst zu haben scheinen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das alles passt nicht zusammen. Sie haben sich damit, wie dargelegt, nicht nur hier im
Deutschen Bundestag, sondern auch in der Gesellschaft von den Positionen der Arbeitgeber,
der Gewerkschaften, der Kirchen und der Wohlfahrtsorganisationen isoliert, was Herrn
Stoiber überhaupt nicht interessiert, wie er uns heute hat wissen lassen.
Meine fleißigen Mitarbeiter haben angesichts der Bedeutung des heutigen Tages - sozusagen
als Serviceleistung, vielleicht besonders für die CDU/CSU - einmal nachgeschaut, welche
Tageslosung die Evangelische Kirche Deutschlands für den heutigen Tag ausgibt. Sie
entstammt Psalm 25, Vers 16: "Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin
einsam und elend." Das wird für Sie künftig ein Stoßgebot oder auch eine
schmerzhafte Selbsterkenntnis sein.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei
Abgeordneten der CDU/CSU)
Ihr Kollege Heiner Geißler hat dies bereits erkannt und in einem dpa-In terwiev gestern
unter anderem geäußert:
Es ist eine Illusion, die in meiner Fraktion gepflegt wird, dass die Union nach einem
Wahlsieg am 22. September ihr Zuwanderungskonzept wird durchsetzen können.
Er warnte davor, das Ausländerthema zum Gegenstand des Wahlkampfs wer den zu lassen. Eine
solche Auseinandersetzung, so Heiner Geißler, wäre Wasser auf die Mühlen der
Rechtsradikalen. Die Union werde sich noch mit Wehmut an den Gesetzentwurf der rot-grünen
Koalition erinnern.
Recht hat der Mann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie, die anderen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, sollten sich bis zur
Abstimmung noch einmal überlegen, ob Sie sich wider bessere eigene Überzeugung zu
Befehlsempfängern eines Kandidaten aus Bayern degradieren lassen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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