Rede der Abgeordneten Leyla Onur (SPD) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag

vom 1. März 2002[1]


Leyla Onur (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, Frau Präsidentin, Sie ein wenig zu korrigieren, aber an dieser Stelle und zu dieser Stunde tue ich das ganz bewusst. Mein Vorname wird anders ausgesprochen, als Sie es getan haben. Es ist ein türkischer Name und man darf ihn ruhig türkisch aussprechen. Vielleicht passt diese Anmerkung ganz gut in diese Debatte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Vielen Dank für den Hinweis, Frau Kollegin. Ich entschuldige mich bei Ihnen, Frau Kollegin. Ich habe gedacht, ich lerne das nie; aber jetzt habe ich es begriffen. Wunderbar.


Leyla Onur (SPD): Ich bitte um Nachsicht. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir heute Morgen natürlich die Rede des Kollegen Merz angehört. Mir ist klar geworden, dass der Kollege Merz spielend mit einer halben Minute Redezeit ausgekommen wäre, wenn er nur das gesagt hätte, was er eigentlich hat sagen wollen.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Da sind wir aber gespannt!)

Er hätte einfach nur sagen müssen: Wir wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz; wir wollen mit diesem Thema Wahlkampf machen, Wahlkampf auf dem Rücken der Migranten und Migrantinnen in diesem Land.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das ist die Quintessenz Ihrer vollmundigen, langatmigen Rede.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Onur, oh wenn Sie nur ruhig geblieben wären!)

Der verehrte Kollege Glos hat das noch ergänzt, hat aber im Grunde nichts anderes gesagt als: Wir, die CDU/CSU, wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz;

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wir wollen ein Begrenzungsgesetz!)

wir wollen Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen machen. - Das war nämlich die Aussage. Auch die ständig wiederholte Behauptung - heute von Herrn Glos, aber auch von Herrn Beckstein, nachzulesen in der gestrigen Ausgabe der, glaube ich, "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" -, dieses Zuwanderungssteuerungsgesetz würde zu einer Ausweitung der Zuwanderung führen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!)

Zigtausende würden pro Jahr nach hierher zusätzlich zuwandern, ist und bleibt eine Lüge. Sie wissen das.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Friedrich Merz [CDU/CSU]: Herr Müntefering hat von 300.000 gesprochen!)

Das ist ja das Infame. Indem Sie diese Lüge ständig wiederholen, schüren Sie Ängste in der Bevölkerung. Genau das wollen Sie. Sie wollen im Grunde den Deutschen, insbesondere denjenigen, die Arbeit suchen, sagen: Schaut euch das an! Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen wollen Arbeitsmigranten auf eure Kosten in das Land holen; ihr seid arbeitslos und trotzdem werden Ausländer angeworben! Mit dieser von Ihnen immer wie der öffentlich geäußerten Behauptung schüren Sie Angst und erzeugen Sie Misstrauen.

Im Gegenteil ist wahr:

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen wichtigen und richtigen Schritt getan, der längst notwendig war. Wir haben uns von der Regelung zum Anwerbestopp verabschiedet. Diese war 1973 durchaus richtig und angemessen. Aber damals - ich möchte es freundlich formulieren - standen aufgrund von Zeitnot und Zwängen noch nicht solche klaren, transparenten und für jeden verständlichen Regelungen wie die unseres jetzigen Gesetzentwurfs zur Verfügung.

In den §§ 18, 19 und 20 wird anstelle eines Anwerbestopps und einer Anwerbestoppausnahmeverordnung klar, transparent und für jeden Mann und jede Frau verständlich geregelt, unter welchen Bedingungen in Zukunft Arbeitsmigration stattfinden kann, und zwar im Hinblick auf die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Angesichts dessen sagen nicht nur böse Zungen: Ihr wollt ja nur diejenigen, die ihr braucht. - In der Tat haben wir mit den §§ 18, 19 und 20 Regelungen geschaffen, die sicherstellen, dass nur diejenigen zuwandern, die wir brauchen. Diese Regeln sind aber so klar und verständlich, dass sie auch von denjenigen verstanden werden, die beabsichtigen, zu uns zu kommen.

Wir brauchen - ich weiß natürlich nicht genau, wann das sein wird - die Zuwanderung von ganz bestimmten Arbeitskräften. Wir brauchen bald - das haben wir in § 19 geregelt - die Zuwanderung von Höchstqualifizierten. Aber selbst bei dieser Gruppe wird genauestens geprüft werden, wie viele wann einwandern dürfen; denn - das muss ich an dieser Stelle deutlich sagen - für uns steht an erster Stelle, die Menschen, die schon in Deutschland leben, also die Inländer, für die Arbeitsplätze fit zu machen - hier ist sicherlich die Wirtschaft als Erste gefordert; aber selbstverständlich ist auch die Arbeitsmarktpolitik gefordert -, die zurzeit angeblich nicht zu besetzen sind.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Job-Aqtiv-Gesetz!)

Das hat absoluten Vorrang. Erst wenn in dieser Hinsicht alles unternommen worden ist, wird die Zuwanderung von Höchstqualifizierten aus dem Ausland zugelassen werden.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Da hören sie weg! - Sebastian Edathy [SPD]: Herr Glos, hören Sie mal zu!)

Im Rahmen eines Auswahlverfahrens werden - das wird wahrscheinlich erst sehr viel später der Fall sein - andere Einwanderer eine Niederlassungserlaubnis nur erhalten, wenn wir sie brauchen. Wann genau das sein wird, wissen weder Sie, Herr Glos, noch ich. Niemand kann das verbindlich vorhersagen. Wenn wir aber tatsächlich Spitzen- und Fachkräfte brauchen werden, dann werden wir sie im Rahmen eines geregelten Verfahrens - ich sage das ganz bewusst; man kann auch "zulassen" sagen - anwerben. Das ist wichtig für diese Gesellschaft und für die Zukunft Deutschlands. Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf heute zustimmen. Wenn Sie ihm nicht zustimmen, dann schaden Sie Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

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Anmerkung:
[1] Im Deutschen Bundestag gaben im Anschluß an die Debatte 587 Abgeordnete ihre Stimme ab. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes wurde mit 321 zu 225 Stimmen und 41 Enthaltungen angenommen und damit als Gesetz beschlossen.
In seiner Sitzung vom 22. März stimmte der Bundesrat nach heftiger Debatte und einer verfassungsrechtlich umstrittenen Abstimmung, die von lautstarker und vorher abgesprochener "Empörung" der CDU-geführten Länder begleitet wurde, mit einer knappen Mehrheit von 35 Stimmen ebenfalls für das Gesetz.
Bundespräsident Johannes Rau fertigte am 20. Juni 2002 das Zuwanderungsgesetz aus, nachdem er durch sorgfältige Prüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Abstimmung im Bundesrat zu dem Ergebnis gekommen war, dass "zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß" nicht vorläge. Er verwies jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit, die Vorgänge der Abstimmung im Bundesrat durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Anschließend wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und hätte somit zum vorbestimmten Zeitpunkt in Kraft können.
Daraufhin reichten die sechs CDU-regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundesratsabstimmung Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts schloss sich am 18. Dezember 2002 der Auffassung der Union an. Er stellte fest, dass die Abstimmung im Bundesrat nicht verfassungsgemäß stattgefunden hatte. Aus diesem Grund trat das Zuwanderungsgesetz, trotz Verkündung im Bundesgesetzblatt, nicht in Kraft.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 222. Sitzung vom 01.03.2002 (Plenarprotokoll 14/222).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede der Abgeordneten Leyla Onur (SPD) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_onur_03-01.html, Stand: aktuelles Datum.


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Letzte Änderung: 03.03.2004
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