Rede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag

vom 1. März 2002[1]


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Der Herr Bundeskanzler hat darum gebeten, das Wort zu erhalten. Ich weise darauf hin, dass die Debatte damit wie der eröffnet wird. Im Anschluss daran ist für die CDU/CSU eine Redezeit von fünf Minuten und für die drei kleineren Fraktionen eine Redezeit von je drei Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Debatte wieder eröffnet.

Der Herr Bundeskanzler hat das Wort.


Gerhard Schröder, Bundeskanzler (von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nur wenige Bemerkungen zu dem machen, worum es mir und uns gegangen ist, als wir einen Kompromissvorschlag gemacht haben, der es nach meiner Auffassung - ich denke, dies ist nicht nur meine Auffassung - erlauben sollte, dass dieser Gesetzentwurf, der heute beschlossen werden wird, seine Wirksamkeit erlangt.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

Um seine Wirksamkeit zu erlangen,

(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin, man hört nichts!)

brauchen wir nicht nur die Mehrheit des Deutschen Bundestages.

(Zurufe von der SPD: Ruhe!)


Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Bundeskanzler, einen Augenblick bitte! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gehört zum parlamentarischen Brauch, dass man dem Redner auch in einer solch heftigen Debatte bis zum Schluss zuhört. Darum bitte ich jetzt alle Beteiligten hier im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS)

Ich bitte auch darum, dass alle ihre Plätze wieder einnehmen. Vielleicht haben Sie noch nicht bemerkt, dass wir uns noch nicht in der Abstimmung befinden. Gleich wird Frau Merkel sprechen, anschließend kommt noch jeweils ein Vertreter der anderen Fraktionen zu Wort. Die Debatte geht also weiter. Ich bitte um ein bisschen Disziplin!

Der Bundeskanzler hat jetzt das Wort.


Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Ich wollte deutlich machen, verehrte Frau Präsidentin, dass dieser Gesetzentwurf, der heute beschlossen wird, auch eine Mehrheit im Bundesrat braucht, um seine Wirksamkeit zu erlangen. Ich möchte Ihnen gerne sagen, dass wir die Kompromisse, die wir gemacht haben und die ganz unbestreitbar sind, nicht nur deswegen gemacht haben, um Ihnen im Bundestag, sondern natürlich auch, um den Landesregierungen im Bundes rat die Zustimmung zu ermöglichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte gerne deutlich machen, dass wir mit diesem Gesetzentwurf nicht die Hoffnung verbinden - ich jedenfalls nicht, Herr Bosbach -, dass damit die Debatte über Zuwanderung beendet sei, egal ob im Wahlkampf oder außerhalb des Wahlkampfes. Diese Debatte kann man nicht mit einem Gesetz beenden. Das liegt doch auf der Hand. Die Diskussion über die Fragen, die unser Volk und damit uns angehen, wird also weitergehen. Ich hoffe, dass sie in einer sachlichen Atmosphäre geführt werden kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer seine Angst darüber zum Ausdruck bringt, wir wollten eine Diskussion beenden, die dann von Rechtsradikalen weitergeführt werden könnte, dem muss ich sagen: Diese Angst ist unberechtigt. Die Demokraten in diesem Land wer den diese Debatte miteinander führen. Ich hoffe, sie führen sie sachlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das haben wir zwei Stunden lang in Ihrer Abwesenheit gemacht!)

Zweite Bemerkung: Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, stellt eine sorgfältige Balance zwischen dem, was für unser Land wirtschaftlich geboten ist, und dem, was wir humanitär um unser selbst willen realisieren müssen, dar. Diese Balance kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass wir es für richtig halten, dass Frauen - auch wenn sie nicht staatlich verfolgt sind -, die Angst haben, verstümmelt zu werden, die um Leib und Leben fürchten müssen, wie wir das in Afghanistan und anderswo erlebt haben, bei uns Zu flucht finden können. Wer wollte dem ernsthaft widersprechen?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Steht im Gesetz, ist doch geregelt!)

Das, was in diesem Gesetzentwurf geregelt wird, geht ausdrücklich nicht über jene Grundsätze hinaus, die in der Genfer Flüchtlingskonvention niedergeschrieben sind.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die gilt doch schon immer!)

Deshalb bitte ich Sie, zu akzeptieren, dass dies zwar unserer humanitären Verpflichtung genügt, ihr aber nur dann gerecht wird, wenn wir eine solche Fassung des Gesetzentwurfes verabschieden und miteinander dafür sorgen, dass dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum wirtschaftlich Gebotenen gehört auch, der Forderung nach mehr Internationalität in unserer Gesellschaft - auch um unserer wirtschaftlichen Entwicklung willen - ebenso gerecht zu werden wie den Vorrang aufrechtzuerhalten, dass es auf dem Arbeitsmarkt natürlich zuerst um diejenigen geht, die bei uns als Deutsche Arbeit suchen. Aber der Gesetzentwurf stellt genau diese Balance her. Deswegen ist er zustimmungsfähig und - so hoffe ich - wird Gesetz werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen nicht vor der Alternative, ob wir Zuwanderung bekommen oder nicht. Wir haben sie doch in den ganzen Jahrzehnten gehabt. Die Alternative, die sich uns bietet, lautet: Wollen wir mit einem Gesetz Zuwanderung sinnvoll begrenzen, unsere ökonomischen Interessen wahren und unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen? Oder wollen wir es weiter so laufen lassen, wie es bisher gelaufen ist?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, wer Verantwortung für Deutschland wahrnehmen will oder wahrnimmt, der muss ein Interesse daran haben, dass wir den Prozess, den wir - ob wir ihn nun wahrnehmen wollen oder nicht - in der Wirklichkeit haben, endlich sinnvoll steuern. Dazu gehört natürlich auch, dass wir ihn begrenzen können.

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Ich habe die herzliche Bitte, dass in den folgenden Wochen bis zur Bundesratsentscheidung weiterhin über die Inhalte des Gesetzes geredet wird. Es darf aber nicht dazu kommen - ich will dies jedenfalls nicht -, dass der Bundesrat als ein Ort missbraucht wird

(Lachen bei der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämt!)

- nun warten Sie doch erst einmal ab! -, an dem ein Zweikampf zwischen dem Kandidaten und dem Bundeskanzler stattfindet; darum geht es nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: Es wäre besser gewesen, Sie wären dieser Debatte weiterhin ferngeblieben!)

Nach dem, was geschrieben wurde - ich habe es mir angeschaut -, mache ich mir Sorgen, dass in den nächsten Tagen und Wochen nicht mehr über das Gesetz, sondern nur noch über die Frage, wer bei der Abstimmung im Bundes rat gewinnt oder nicht, geredet wird. Das würde dem Gesetz nicht gerecht werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: Wie bei der Steuerreform in der letzten Wahlperiode!)

All denjenigen, die davor Angst haben, sage ich: Ich glaube nicht, dass die Bundestagswahl am 22. September durch die Entscheidung im Bundesrat - unabhängig davon, welche Landesregierung zustimmt oder nicht - in der einen oder anderen Weise vorentschieden wird. Mir liegt daran, aus dieser personalisierten Auseinandersetzung herauszukommen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Quatsch! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

- Es mag ja sein, dass das bei Ihnen nicht der Fall ist. Verstehen Sie aber bitte, dass mir etwas an dem Gesetz liegt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich im Übrigen keine Sorgen machen. Diese Form der Auseinandersetzung - auch eine sehr personalisierte - wird es geben. Davor haben wir nicht die geringste Angst. Seien Sie sich dessen ganz sicher.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Michael Glos [CDU/CSU]: Er sagt "wir", wenn er von sich spricht! Das ist anmaßend! Wie der Papst!)

Ich fände es aber falsch, wenn die Wirksamkeit dieses Gesetzes, das ich in des Wortes wahrster Bedeutung für notwendig halte, davon abhinge, wer bei der Abstimmung im Bundesrat als Person gewinnt. Das möchte ich vermeiden.

Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich darum und appelliere an Sie, heute diesem notwendigen Gesetz zuzustimmen und alles dafür zu tun, dass in den nächsten Tagen und Wochen über die Inhalte geredet und die Auseinandersetzung in der zweiten Kammer nicht für andere Zwecke missbraucht wird.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

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Anmerkung:
[1] Im Deutschen Bundestag gaben im Anschluß an die Debatte 587 Abgeordnete ihre Stimme ab. Der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes wurde mit 321 zu 225 Stimmen und 41 Enthaltungen angenommen und damit als Gesetz beschlossen.
In seiner Sitzung vom 22. März stimmte der Bundesrat nach heftiger Debatte und einer verfassungsrechtlich umstrittenen Abstimmung, die von lautstarker und vorher abgesprochener "Empörung" der CDU-geführten Länder begleitet wurde, mit einer knappen Mehrheit von 35 Stimmen ebenfalls für das Gesetz.
Bundespräsident Johannes Rau fertigte am 20. Juni 2002 das Zuwanderungsgesetz aus, nachdem er durch sorgfältige Prüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Abstimmung im Bundesrat zu dem Ergebnis gekommen war, dass "zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß" nicht vorläge. Er verwies jedoch ausdrücklich auf die Möglichkeit, die Vorgänge der Abstimmung im Bundesrat durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Anschließend wurde das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet und hätte somit zum vorbestimmten Zeitpunkt in Kraft können.
Daraufhin reichten die sechs CDU-regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Saarland, Sachsen und Thüringen wegen der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundesratsabstimmung Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts schloss sich am 18. Dezember 2002 der Auffassung der Union an. Er stellte fest, dass die Abstimmung im Bundesrat nicht verfassungsgemäß stattgefunden hatte. Aus diesem Grund trat das Zuwanderungsgesetz, trotz Verkündung im Bundesgesetzblatt, nicht in Kraft.


Quelle: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Stenographischer Bericht der 222. Sitzung vom 01.03.2002 (Plenarprotokoll 14/222).


Empfohlene Zitierweise des Dokumentes:
Rede des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen im Bundestag (01.03.2002), in: documentArchiv.de [Hrsg.], URL: http://www.documentArchiv.de/brd/2002/rede_schroeder_03-01.html, Stand: aktuelles Datum.


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Rüdiger Veit (SPD), Friedrich Merz (CDU), Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grüne), Dr. Max Stadler (FDP), Petra Pau (PDS), Dr. Michael Bürsch (SPD), Michael Glos (CSU), Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus [I] (PDS), Sebastian Edathy (SPD), Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Christel Riemann-Hanewinckel (SPD), Christa Lörcher (fraktionslos), Leyla Onur (SPD), Otto Schily (SPD), Wolfgang Bosbach (CDU), Gerhard Schröder (SPD), Dr. Angela Merkel (CDU), Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Roland Claus [II] (PDS), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
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Letzte Änderung: 03.03.2004
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